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Flucht aus Vogelsang


Erlebnisbericht von Günter Schulze über die Flucht aus Vogelsang im Februar 1945

Herr Günter Schulze, jetzt wohnhaft in Eisenhüttenstadt, hat als Kind die Flucht aus Vogelsang erlebt und dies in seiner Chronik beschrieben. Er ist der Bruder unseres verstorbenen Bürgermeisters, Herr Dieter Schulze, der im Februar 1945 während der Flucht geboren wurde.
Herr Bernhard Lehmann aus Vogelsang hat den Bericht mit Zustimmung des Autors bearbeitet, Texte auszugsweise daraus entnommen und einige mit eigenen Erlebnissen ergänzt.

"Am 2. Februar 1945 rückten 2 LKW mit Soldaten in Vogelsang ein. Fast alle waren Jugendliche, so um die 16 - 18 Jahre. Sie wurden zur Oder beordert. Wir Jungs rannten mit voller Begeisterung neben den Fahrzeugen her. Auf dem Oderdamm wurde dann etwa alle 200 m ein Soldat postiert. Es waren Geräusche jenseits der Oder zu hören. Dass es zu diesem Zeitpunkt aber schon Panzergeräusche von der sich nähernden sowjetischen Front waren, merkten die jungen Soldaten erst später. So war es einem Spähtrupp unbemerkt gelungen über die zugefrorene Oder bis zum diesseitigen Oderdamm am Birkenwäldchen (in der Nähe der "Jesnitz-Trifft") zu kommen. Von den wenigen dort in der Nähe in Stellung gegangenen deutschen Soldaten wird wohl kaum einer die Nacht überlebt haben.
Der Mühlenweg, heutiger Zustand
Der Mühlenweg, heutiger Zustand
Foto: B. Lehmann
Der Mühlenweg am Ortsrand, heutiger Zustand. Er wird jetzt kaum noch befahren. Erkennbar sind noch am Weg links die verwilderten Sträucher der damaligen Kopfweiden
Der Mühlenweg am Ortsrand,
heutiger Zustand.
Er wird jetzt kaum noch befahren.
Erkennbar sind noch am Weg links die
verwilderten Sträucher der
damaligen Kopfweiden
Foto: B. Lehmann
Am 3. Februar erkannten wir dann den Ernst der Lage, als beim Nachbarn Oskar Brietsch eine Granate in den Hausgiebel einschlug. Nun kam die Aufforderung, dass bei Dunkelheit alle Frauen und Kinder das Dorf "vorübergehend" zu verlassen haben. (Man achte auf diese Formulierung!) Auf zwei Handwagen, mit dem nur aller Notwendigsten bepackt, flüchteten wir mit Beginn der Dunkelheit aus Vogelsang über den Mühlenweg und dann über den Feldweg durch den Wald in Richtung des damaligen Bahnübergangs (Schrankenposten 99). Dabei erlebten wir gleich hinter dem Ortsrand, auf dem anschließenden freien Feld, den ersten schrecklichen Beschuß mit der Stalinorgel. Die leuchtenden Geschosse schlugen rechts, links neben uns ein. Zum Glück waren Vater, Oma und Opa mit uns. Wir überquerten dann die damalige, wenige Tage darauf gesprengte Kanalbrücke bei Seelas-Hof und gingen nach Schönfließ, zu Jakobis. In Schönfließ fühlten wir uns sicherer. Aber am nächsten Tag wurde auch schon dieser Ort beschossen.
Nach der Rückkehr von der Flucht gingen wir zunächst wieder nach Schönfließ, ein heutiger Ortsteil von Eisenhüttenstadt. Oma, Opa und Onkel Richard machten sich nun auf den Weg nach Vogelsang. Man warnte sie, nicht von der Straße abzukommen, weil dort Minen liegen könnten. Zuhause angekommen, standen sie vor einem Trümmerhaufen. Vom Haus standen nur noch die Giebel und die Schornsteine. Stall und Scheune waren auch niedergebrannt. Quer über den Hof verlief ein Schützengraben, in dem noch Leichen von Russen und deutschen Soldaten lagen. Im ganzen Ort sah man das gleiche schreckliche Bild. Halb verwestes Vieh lag neben der Straße. Es stank furchtbar. Das fürchterlichste aber war, dass große Teile des Ortes und der Ländereien vermint waren, wodurch einige Einwohner ums Leben kamen. Überall in Bunkern und Schützengräben lagen noch Waffen, Munition und Geschoßteile herum. Durch diese Hinterlassenschaften des Krieges waren besonders Jugendliche in Vogelsang gefährdet, die sich dabei neugirig und abenteuerlich verhielten. So auch der minderjährige Werner Pollack, Sohn des Landwirts Emil Pollak, welcher am Dorfrand an einem Stapel Minen eine fürchterliche Exlosion ausgelöst haben soll. Der Sohn wurde dabei total zerrissen! Wie unfaßbar und schrecklich muß es für die Angehörigen gewesen sein, als sie seine Übereste aufsammelten. (Bericht B.Lehmann)
Das Geburtshaus von G. Schulze nach dem Wiederaufbau
Das Geburtshaus von G. Schulze
nach dem Wiederaufbau
Foto: B. Lehmann
Das Einzige, was wir zuhause noch retten konnten, waren im Keller noch unsere Kartoffeln. Sie halfen uns mit zu überleben. Ich habe mir seinerzeit im Alter von 11 Jahren die Frage gestellt, warum gerade wir Vogelsänger gegenüber den umliegenden Ortschaften die größten Schäden des Krieges haben erleiden müssen. In vielen dieser Orte war oftmals nicht einmal ein Haus beschädigt. Vieh, Geräte, Möbel und Essensvorräte, alles blieb erhalten. Wir dagegen hatten alles verloren. So zogen wir in eine Wohnung in Fürstenberg(Oder) am Kanal, bis wir unser Haus wieder einigermaßen aufgebaut hatten."
Günter Schulze, Mai 2009

Nachwort und Hinweis von B.Lehmann in eigener Sache
Ich danke Herrn Günter Schulze für die Zustimmung zum Abdruck seines Berichts aus seiner im übrigen sehr interessanten Familien-Chronik. Sein Bericht bestätigt und ergänzt meine Erlebnisse über unsere Flucht aus Vogelsang. Diese sind aber Bestandteil meines anderen Berichtes, der auf der Transnetseite der Eisenbahnfreunde aus Frankfurt(O) veröffentlicht wurde.
Die Berichte von Zeitzeugen sind als Informationen für die jetzige und für folgende Generationen gedacht, die sich glücklich schätzen können, Kriege nicht mehr erlebt zu haben. Sie mahnen uns zum Vermächnis:
Nie wieder Krieg!

Leider wird die Zahl der Zeitzeugen von Jahr zu Jahr immer weniger und mit ihnen auch ihre nicht bekannt gewordenen Erlebnisse für die Nachwelt. Deshalb bitten wir unsere Einwohner und Leser, sofern sie über ähnliche Begebenheiten in oder um Vogelsang berichten können, diese an den Computerfreund und Gründer dieser Webseite, Herrn Frank Mainz, den Heimatverein oder an mich zu richten.